Max Goldts Gedanken zum Thema "Pünktlichkeit plus"

Von Europäern mit schmutzigen Füßen wird das Land Brasilien oft dafür gelobt, dass man dort auf die Pünktlichkeit nicht den geringsten Wert lege, während sie bei uns einen durchaus guten Ruf genießt. Zu Unrecht im Schatten der Kritik an Verspätungen stehen jedoch die Einwände gegen die Verfrühung. Paradox ist das Wort von der Überpünktlichkeit - eine halbe Stunde zu früh ist genauso unpünktlich wie eine halbe Stunde zu spät. Auch nicht gut ist ein zu frühes Kommen. Ich meine das nicht im sexuellen Sinne. Sicher, wenn der Mann zu früh »kommt«, dann schlägt die Frau mit den Fäusten auf das Nachttischschränkchen, ruft: »So geht das nicht!«, und schleppt den Partner anderntags zu einer raffgierigen geschiedenen Hausfrau, deren Adresse sie vom Fax-Abrufservice der Sendung »Wa(h)re Liebe« hat. Die Dame ist Orgasmusberaterin, wohnt in einem Hochhaus mit nach Urin riechendem Fahrstuhl und sagt an der Tür: »Ich bin die Gaby. Kommt rein«, und das Ehepaar denkt: »Mein Gott, hat das Weib häßliche Möbel.« Meine Kritik bezieht sich vielmehr auf unsexuelles Kommen, auf das Besuchen. Es ist sehr wichtig, Besuch zu empfangen. Immer wieder hört man von Personen, die nie Besuch bekommen. Inmitten Tausender von Bierbüchsen und verdorbenen Lebensmitteln wird die Leiche entdeckt. Im Bett einundzwanzig mumifizierte Katzen. Hier ihre Namen: Muschi, Mutzi, Batzi, Tosca, Sherry-Lou, Funky, Minki, Volker, Lulu. Meike, Mandy, Patty, Pablo, Karlsquell, Lissi, Hanni, Nanni, Aznavour, Sokrates, Felix – aber damit soll’s gut sein. Katzennamen halt. Alle 21 will ich hier nicht aufzählen. Entrümpelungsfachleute mit Gasmasken müssen die Wohnung ausräumen, begleitet vom Ruckedigu der im Badezimmer nistenden Tauben. Soziale Kontrolle ist das ideale Mittel gegen Verwahrlosung. Da aber bei Leuten, die nie im Gefängnis waren, keine Bewährungshelfer und bei Kinderlosen niemand vom Jugendamt aufzukreuzen pflegt, muß man rechtzeitig sogenannte Treffpunkte aufsuchen, Arbeitsplätze, schummrige Bars oder Yogakurse, sich dort durch unverzagte Fingerzeige seine persönlichen sozialen Kontrolleure, in der Umgangssprache auch Freunde genannt, aussuchen und diese durch das Inaussichtstellen von Gratisgetränken und Knabberzeug bewegen, einen in sinnvollen Abständen zu besuchen, ein bißchen, nicht allzu auffällig freilich, nach dem Rechten zu schauen und in ernsten Fällen vielleicht auch mal zu fragen: »Du, sag mal, diese Katzen auf deinem Bett – direkt schnurren tun die doch nicht mehr, oder?« In der Stunde vor dem Eintreffen des Gastes hat man vieles zu erledigen: Wischen, Teppiche klopfen, die Unterseite der Klobrille reinigen, Getränke kalt stellen, Gardinen waschen, Fingernägel schneiden, sich Gesprächsthemen auf die Handinnenfläche schreiben – es ist eine rechte Hektik. Für jede Minute ist man dankbar. Nun geschieht aber das Scheußliche, denn statt um 20 Uhr klingelt der Gast eine Viertelstunde früher! Was für eine Roheit! Natürlich sitzt man ungekämmt auf der Toilette und putzt sich mit einer Hand die Zähne und mit der anderen Hand die Schuhe. Mit Zahnpastaschaum im Mund geht man zur Tür, und der Gast plappert fröhlich: »Ich hatte die Entfernung überschätzt. Hätte ich etwa noch eine Viertelstunde um den Block gehen sollen?« Falsch verstandene Höflichkeit gebietet es nun, den Schaum herunterzuschlucken und »Aber nein« zu sagen, obwohl die einzige richtige Antwort hätte lauten müssen: »Ja, selbstverständlich hättest du bis acht Uhr um den Block gehen müssen.« Kleine Verspätungen sind, zumindest bei Hausbesuchen, nicht schlimm und entschuldbar. Verfrühungen aber sind eine leicht vermeidbare Unfreundlichkeit und unverzeihlich. Einmal erwartete ich einen Tisch. Seine Lieferung war mir für die Zeit zwischen 8 und 13 Uhr versprochen worden. Um halb acht verließ ich das Haus, um mir Frühstückslektüre zu holen. Als ich um zehn vor acht zurückkam, fand ich einen Zettel an der Tür, auf dem es hieß, ich sei während der vereinbarten Lieferzeit nicht daheim gewesen. Mein Telefon sieht noch jetzt ganz mitgenommen aus von den berechtigten Schmähworten, welche ich dem Möbelhaus übermittelte. In solchen Fällen sollte man streitbar sein, notfalls bis vors Bundessonstwasgericht ziehen, so wie der eine Gymnasiast, der dadurch berühmt wurde, daß er nicht zum Chemieunterricht gehen wollte, oder die hartnäckige Bürgerin, die seit zwanzig Jahren dafür kämpft, daß sie nicht mit Frau Rechenberg, sondern mit Dame Rechenberg angeredet wird, weil man ja auch nicht Mann, sondern Herr Rechenberg sage. Ist nun aber Pünktlichkeit die Lösung? Nein, nein, gar nicht. Vor einigen Jahren traf ich mich am Bremer Hauptbahnhof mit einigen Herren, um mit ihnen den in einem niedersächsischen Dorf lebenden Schriftsteller Walter Kem- powski zu besuchen. Während der Autofahrt beratschlagten wir uns, wie wir den Besuch gestalten können, ohne den von uns verehrten, als eigenwillig bekannten Autor zu nerven. Zweierlei war uns bekannt: daß Herr Kempowski die Pünktlichkeit schätzt und daß er Ludwig den Frommen für die verachtenswerteste geschichtliche Gestalt hält. Dies wußten wir aus dem Fragebogen des Magazins der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und somit war uns klar, daß wir auf keinen Fall das Gespräch auf diese historische Figur lenken sollten, was uns aber nicht in Schwierigkeiten brachte, da Ludwig der Fromme uns allen recht fremd war – wir gehörten einfach nicht zu dem erlauchten kleinen Zirkel, in dem Ludwig der Fromme noch für Schweißausbrüche sorgt. Das mit der Pünktlichkeit aber nahmen wir ernst. Wir standen vor der Haustür, ich blickte auf meine Braunschweiger Atomarmbanduhr, und wir begannen einen richtigen kleinen Mondraketen-Countdown: Zehn Sekunden vor 15 Uhr, neun Sekunden, acht Sekunden, usw., usf., eine Sekunde vor 15 Uhr – KLINGELN. Herr Kempowski öffnete die Tür und sagte: »Das ist ja schon fast peinlich, wie penetrant pünktlich Sie sind.« Inzwischen weiß ich, daß es am freundlichsten ist, bei einer solchen Einladung zehn bis fünfzehn Minuten nach dem vereinbarten Termin zu erscheinen. Der Gastgeber wird dann entspannter angetroffen. Man lasse ihn noch einmal schauen, ob wirklich keine Krümel oder privaten Sexfotos auf dem Tisch liegen. Sonst kriegt man zwar recht wunderbar die Arbeitsweise des Künstlers erläutert, bekommt die delikatesten biografischen Splitter geliefert, aber hinterher, auf dem Weg vom Autor zum Auto, sagt man nur: »Der hatte ja lauter Krümel und private Sexfotos auf dem Kaffeetisch liegen.« Diese menschenfreundliche leichte Verspätung ist nichts Neues. Früher sprach man vom »akademischen Viertel«. Doch das ist ein obsoleter Ausdruck. Ich schlage vor, von Pünktlichkeit plus zu sprechen, denn dieses nachgestellte plus ist z. Zt. ein großer sprachlicher Hit. Es gibt ein Erfrischungsgetränk namens Apple plus. Es handelt sich um mit Mineralwasser gestreckten Apfelsaft. »Früher hieß so etwas Apfelschorle«, mögen nun Scharfzüngige einwenden. Gewiß. Aber auf andere Beispiele läßt sich das nicht übertragen, z. B. das neue Konto Postbank Giro Plus hieß früher nie und nimmer Postbank Giro Schorle. Im allgemeinen will das plus wohl sagen, daß man uns mit allerlei Bonusleistungen und Serviceergänzungen zu ergötzen trachtet. Beim Nahrungsergänzungsmittel Calcium plus z. B. wird das nahrungsergänzende Calcium zusätzlich durch die Bonusergötzung Magnesium ergänzt. Fordert man die Generation Sixtyplus zu einem schwungvollen Dasein auf. kriegt man zusätzlich zu den Sechzigjährigen auch rastlose Siebzig- bis Hundertjährige vor die Kamera. Die Telekom-Tarifbereichsbezeichnung City plus will meinen, daß man mit irgendwelchen ätzenden Kleinstädten in Brandenburg zum gleichen Preis wie innerhalb Berlins telefonieren kann. Sollte Deutschland mal den Wunsch haben, seine europäischen Nachbarn, insbesondere das euroskeptische Britannien mit einem unsensiblen Späßchen zu reizen, dann rate ich dazu, in Brüssel zu beantragen, die Europäische Union in Germany plus umzubenennen. PS: Neulich war ich in einer der »ätzenden brandenburgischen Kleinstädte«, und dort sah ich einen Kuchenstand, der mir ausgezeichnet gefiel. Über ihm hing ein Transparent mit der Aufschrift: 8 Jahre PDS, 6 Jahre Kuchenstand der PDS." aus: Max Goldt: "Der Krapfen auf dem Sims"

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